Leseprobe
[…] Weil es der einzige Zweck unserer Praxis und unseres Studiums des Dharma ist – sowohl für uns selbst als auch für andere – in diesem Leben, zum Zeitpunkt des Todes und in unseren künftigen Leben, Frieden zu bringen, sollten wir den Wechsel der Jahreszeiten, den Wechsel von Tag und Nacht beobachten und uns in jedem Augenblick der Praxis zuwenden.
Alle fühlenden Wesen existieren von Augenblick zu Augenblick in einem Zustand des Leidens. Viele, besonders in den drei niederen Bereichen, erleben das Leiden des körperlichen und mentalen Schmerzes. Andere, in günstigeren Umständen, erleben das Leiden des Wandels, wenn ihr temporäres Glück und Vergnügen der Sorge weichen. Freunde können zu Feinden werden, Nahrung sich in Gift verwandeln. Wir sind enttäuscht, wenn wir nicht das bekommen, was wir begehren und wir hilflos dem begegnen, was wir lieber vermeiden würden.
Diese verschiedenen Leiden sind nichts weiter als die Resultate, die aus unseren unheilsamen Handlungen und Gedanken hervorgehen und daher ist es zwecklos, sich gegen sie zu wehren. Tatsächlich können wir lernen, uns unserem Leid in positiver Weise zu nähern. Das Leiden kann uns daran erinnern, uns unserer fortlaufenden Ansammlung von Ursachen und ihrer unvermeidlichen Wirkungen, die wir alleine zu erfahren haben werden, bewusst zu werden. Das Leiden untergräbt auch unseren Hochmut, bringt uns auf den Boden zurück und inspiriert uns, nach Lösungen zu suchen. Aufgrund unserer Leiden können wir andere, die Schmerzen haben, besser verstehen. Und wenn wir von der unerbittlichen Natur karmischer Ursachen überzeugt sind, werden wir in unserer Verantwortung für uns selbst und für andere wirkungsvoll und aufrichtig sein.
Weil sich alle fühlenden Wesen in diesem Leidenszustand befinden, kann es hilfreich sein, sie als unsere Eltern, Freunde oder Kinder zu betrachten und für sie die gleiche liebevolle Zuwendung und das gleiche Mitgefühl zu entwickeln, das wir in Bezug auf unsere Eltern, Freunde und Kinder in diesem Leben empfinden. Vor allem Mitgefühl ist eines der Hauptgegenmittel gegen störende Gefühle, insbesondere gegen Ärger und Abneigung. Es erstreckt sich auf alle Wesen, möchte sie von ihrem Leid befreien und bringt ein tiefes Gefühl von Weite und Entspannung mit sich. Wer Mitgefühl besitzt, zieht andere an und wird von allen respektiert. Mitgefühl öffnet unser Herz.
Wenn wir etwas Erfahrung in dieser echten liebevollen Zuneigung und diesem Mitgefühl haben, können wir anfangen, Bodhicittazu entwickeln, den vollerwachten Geist mit dem Wunsch, Buddhaschaft zum Wohl aller fühlenden Wesen zu erlangen. Als bester Pfad zur Reinigung unserer störenden Emotionen und unserer subtilen Verdunkelungen und zur Vollendung des Weisheitsgewahrseins ist Bodhicitta die höchste Quelle von Wohlergehen, Frieden und Glück. Bodhicitta ist der universale Geist, der jedes fühlende Wesen von Herzen umarmt. Geistesschärfe, Zuversicht und Mut – all diese ausgezeichneten Qualitäten und noch andere entstehen aus der Praxis von Bodhicitta. […]
Diejenigen, die diese Grundlage der Schulung im ursächlichen Fahrzeug haben und die ein gutes Verständnis der allgemeinen Lehren des Buddha besitzen, können mit der Übung des Tantra beginnen. Das Wort ‚Tantra’ bedeutet Kontinuität oder Fortbestand und bezieht sich auf die Kontinuität der unveränderlichen Natur des Erleuchtungsgeistes, die Buddha-Natur. Die Praxis des Tantra ist eine kraftvolle und direkte Methode, um diese leuchtende Natur des Geistes zu erwecken. Besonders durch die Zeremonie der vier Ermächtigungen erhält man das Potential, seinen gewöhnlichen Körper zu reinigen und den Körper einer Gottheit zu manifestieren, die gewöhnliche Sprache zu reinigen und die Weisheitssprache zu manifestieren, die Verschleierungen des Geistes zu reinigen und den Weisheitsgeist zu verwirklichen und die Verschleierungen der Dualität zu reinigen und die allesdurchdringende Natur der Erleuchtung zu erkennen. Die Sechs Yogas von Naropa – im Einzelnen sind das die Übungen von Tummo, Klarem Licht, Traum-Yoga, Illusionskörper, Phowa und Bardo – enthalten die wirkliche Essenz aller Tantra-Lehren. Die einwandfreie Ausführung dieser Methoden durchtrennt alle Täuschungen in Samsara und ermöglicht es dem Erleuchtungsgeist, sich direkt zu offenbaren. […]
Erleuchtung ist die allesdurchdringende Weisheit der Leerheit, die Einheit von objektfreiem großen Mitgefühl und innewohnendem Bewusstsein. Alles in Samsara und Nirvana ist durch diese Beschaffenheit ‚besiegelt’ (Mudra) und es gibt nichts ‚größeres’ (Maha) als sie. Deshalb wird sie Mahamudra genannt. Wenn man diese Beschaffenheit verwirklicht, wird das Nirvana genannt. Wenn man dies nicht verwirklicht, wandert man in Samsara. Nagarjuna sagte: “Es besteht kein Unterschied zwischen Samsara und Nirvana. Wenn man die Natur von Samsara erkennt, nennt man dies das Erreichen von Nirvana.”
Um Mahamudra zu praktizieren, sollte man sich zuerst darum bemühen, die Meditation des ruhigen Verweilens mit der Methode der Atem-Beobachtung zu üben. Zuerst setzt man sich bequem hin und entspannt den Geist. Dann atmet man tief und voll ein und wieder aus, um alle Verspannungen zu lösen. Dann wird natürlich durch die Nase geatmet und indem man den Atem als Objekt nimmt, bringt man den Geist zur Ruhe. Wenn der Geist abgelenkt wird, bringt man ihn einfach zum Gewahrsein des Atems zurück. Auf diese Weise zähmt man den Geist und stabilisiert ihn in einsgerichteter Ruhe. Alternativ stellt man sich im Herzzentrum ein blaues Licht in der Größe eines Senfsamens vor und indem man dieses Licht als Objekt nimmt, bringt man den Geist zur Ruhe. Wenn Gedanken aufsteigen, lässt man sie sich im blauen Licht auflösen und einfach ruhen, ohne ihnen hinterherzujagen oder sie zu verdrängen.
Dieses Training vertreibt die Verwirrung und festigt den Geist durch Klarheit und Frieden. Auf der Basis dieser Stabilität – und durch die aufzeigenden Anweisungen – erkennt man die Mahamudra, die alles durchdringende Natur des Geistes. In diesem Augenblick werden alle groben störenden Emotionen als von ihrer Natur her leer erkannt. Dann gibt es nichts, was anzunehmen oder abzulehnen wäre. Man nimmt einfach diese ungeschaffene Erfahrung der Dinge, wie sie sind, wahr. So wie der Raum ursprünglich frei von Wolken ist, so ist diese Natur in ihrer unermesslichen Weite und Tiefgründigkeit unbeschreiblich. So ist es, wenn der Geist frei von begrifflichem Denken ist. Dies ist absolute Freiheit.
Widmung ist die Methode, die Frucht jeglicher Praxis, die man ausgeführt hat, völlig aufblühen zu lassen. Man mag eine Menge Verdienst angesammelt haben, aber wenn man es nicht gewidmet hat, könnte das Resultat verschwendet sein, bevor es zu Tage tritt. Das eigene Heilsame und das Heilsame aller anderen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – zusammen mit dem innewohnenden Heilsamen der Buddha-Natur selbst, die jeder besitzt – sollte der Erlangung der vollständigen Erleuchtung für sich selbst und für alle fühlenden Wesen gewidmet werden. Diese Art der Widmung vermehrt nicht nur das Resultat des heilsamen Handelns, sondern dieses Heilsame wird, wie ein Wassertropfen, der sich mit dem Ozean verbindet, unerschöpflich sein, bis man die vollständige Buddhaschaft erlangt.