Der Begriff Mandala kommt aus dem Sanskrit und bedeutet Kreis. Die Kreisform findet sich in der Natur kosmisch im Umlauf der Planeten um die Sonne, auf unserem Planeten in vielen Blüten und Früchten.
In übertragenen Sinne verläuft das ganze Leben im Kreis: Geburt – Jugend – Alter – Tod – Wiedergeburt (“das Rad des Lebens”); in den Jahreszeiten: Frühling – Sommer – Herbst – Winter. Im gesellschaftlichen Sinn spricht man vom Familienkreis, Bekanntenkreis und den gesellschaftlichen Kreisen. Zu Verhandlungen setzt man sich an den runden Tisch.
In der Architektur ist der Kreis als Konstruktionsgrundlage von außergewöhnlicher Bedeutung. Die ägyptischen Pyramiden, die griechischen Tempel und die Baukunst der Renaissance gehen vom Kreis aus. Im christlichen Sakralbau finden wir ihn im Kuppelbau und vielen Fensterrosetten, vielfach auch auf Bildern z.B. als Heiligenschein. Hier ist der Kreis Symbol für die Ganzheit – für das Heil- (Heilig-) sein.
Auch im Buddhismus ist der Kreis von fundamentaler Bedeutung. Auf den tibetischen Thangkas (Rollbildern), die der Meditation dienen, befinden sich häufig Mandalas. Es scheint, dass die Betrachtung und Vertiefung in ein kreisförmiges Bild zu einer inneren Zentrierung und Auffindung der eigenen Mitte führt.
Das Mandala
Mandala-Formen finden sich in den Bausteinen der Materie sowie im Pflanzen- und Tierreich, angefangen bei den Uratomen über Mikrokristalle bis zum Planetensystem. Denken wir an die Vielfalt und Schönheit der Blumen- und Blüten-Mandalas, an Kalkgehäuse von Muscheln oder die Form der Seeigel, Anemonen und Korallen, an die Häuser der Schnecken, den Bau eines Vogelnestes oder eines Spinnennetzes.
Mandalas sind Kreisbilder mit verschiedenen Farben, Formen oder mystischen Sinnbildern. Wir finden sie in allen menschlichen Kulturen, im Osten wie im Westen und begegnen ihnen in vielen Variationen, z.B. als Grundriss eines Tempels oder heiligen Platzes, als magischer Kreis, der auf die Erde oder in den Sand gemalt wird, als formvollendetes tibetisches Meditations-Bild oder in den Fensterrosen gotischer Kathedralen.
Die ersten Mandala-Darstellungen stammen aus der Alt-Steinzeit. Es sind kreisförmige Felsritzungen, die als Sonnenräder gedeutet werden und bis zu 25.000 oder 30.000 Jahre alt sein sollen. Im tibetischen Buddhismus sind verschiedene Inhalte geistiger Entwicklungsprozesse als Symbole in der Form eines Mandala angeordnet, das die Meditation und Konzentration unterstützen soll. Im Tantrischen Yoga symbolisiert das Mandala den Kosmos und dient der Kontemplation. Auch in der christlichen Religion finden wir das Mandala. Es zeigt Christus im Zentrum umgeben von den vier Evangelisten oder ihren Symbolen.
Das Mandala erweckt in uns kreative Kräfte, die aus dem Unbewussten aufsteigen und uns eine Neuorientierung in der äußeren Welt ermöglichen. Es fördert unsere Selbsterkenntnis, persönliche Entwicklung, Heilung und ist eine spirituelle Bereicherung für unser Leben. Es führt uns zu unserer Mitte, zu innerer Harmonie und Ganzheit.
Das Mandala als Spiegel des eigenen Selbst
Der Schweizer Psychotherapeut Carl Gustav Jung beschäftigte sich mit Mandalas. Er skizzierte jeden Morgen in sein Tagebuch eine Kreiszeichnung und stellte dabei fest, dass diese Zeichnungen sich entsprechend seiner inneren Situation veränderten. Ästhetisch-künstlerische Aspekte spielten dabei keine Rolle. Er schreibt: “Ich skizzierte jeden Morgen eine kleine Kreiszeichnung, ein Mandala, welches meiner jeweiligen inneren Situation zu entsprechen schien […]. Nur allmählich kam ich darauf, was das Mandala eigentlich ist: […] das Selbst, die Ganzheit der Persönlichkeit, die, wenn alles gut steht, harmonisch ist […].“
Jung sah einen Zusammenhang zwischen dem Mandala und der Gesamtpersönlichkeit des Menschen. Er war der Meinung, dass das Mandala uns hilft, die Anlagen unserer Persönlichkeit zu verwirklichen. Jung gelangte zu der Erkenntnis, dass das Malen und Träumen von Mandalas der Weg zur Mitte, ein natürlicher Teil des Individuationsprozesses ist.
Jung sagt über das Mandala: “Dass derartige Bilder unter Umständen beträchtliche therapeutische Wirkungen auf ihre Verfertiger haben, ist empirisch festgestellt und auch leicht verständlich, indem sie oft sehr kühne Versuche zur Zusammenschau und zur Zusammensetzung anscheinend unvereinbarer Gegensätze und zur Überbrückung scheinbar hoffnungsloser Trennungen darstellen. Schon ein bloßer Versuch in diese Richtung pflegt heilsame Wirkung zu haben.“
Zehn Jahre lang befand sich Jung in einem intensiven inneren Prozess der Selbstfindung. Mit regelmäßigem Mandala-Malen zentrierte er die aus dem Unbewussten aufsteigenden Empfindungen und Erfahrungsmuster auf die innere Mitte des Selbst. Die zahllosen Zeichnungen und Gemälde mit ihren immer wiederkehrenden Formen aus Kreisen, Rechtecken, Labyrinthen, düsteren und strahlenden Mittelpunkten waren ein direktes Abbild der allmählichen Heilung seiner zerrissenen Persönlichkeit. Die Zeichnungen wurden zu einem Spiegel seines Befindens und der Akt des intuitiven Mandala-Malens half ihm, sich selbst wieder seelisch aufzubauen.
Ein Text über taoistische Meditation bestätigte seine eigenen Erfahrungen mit dem Mandala-Malen, das ihn durch zeichnerisches Umkreisen des Zentrums zu seiner eigenen inneren Mitte finden ließ. Nun konnte Jung die Theoriebildung systematisch angehen. Es gelang ihm, einleuchtend darzulegen, dass das Mandala die Ganzheit der Seele, des Bewussten und des Unbewussten, darstellt. Seine innere Ordnung, der harmonische Aufbau um ein Zentrum herum, war der sichtbare Beweis für die Existenz einer umfassenderen Instanz. Diese Instanz begründet und erhält das psychische Leben, und sie bewirkt die ganzheitliche Entfaltung und Entwicklung der Einzelpersönlichkeit, die «Individuation».
Viel später nannte Jung diese übergreifende seelische Instanz in Anlehnung an die indische Philosophie das «Selbst» (Sanskrit: atman). Das Mandala konzentriert die psychische Energie auf das Selbst, es vermittelt zwischen gegensätzlichen psychischen Polen, stellt ein Gleichgewicht zwischen den Extremen her. Schon damals machte Jung die Entdeckung: Die heilsame Wirkung des Mandala hängt nicht von seiner klassischen, überlieferten Form ab. Auch seine freie Gestaltung kann ein Beitrag zum Heil- und Ganzwerden der Seele sein – ja, gerade sie ist für den modernen Menschen besonders wichtig.
Wie lässt sich erklären, dass Jung über einen langen Zeitraum Erfahrungen mit dem Mandala machte, die denen von Eingeweihten in Tibet, Nepal und Indien entsprachen, ohne dass er das Wie und Warum kannte? Eine durchaus plausible Erklärung für dieses Phänomen lautet, dass Jung ebenso wie die östlichen Weisen in die Tiefen des kollektiven Unbewussten vorstieß. Er hatte den Schlüssel gefunden, um durch die Mandala-Bilder Archetypen zu aktivieren, die im kollektiven Unbewussten eines jeden Individuums schlummern.
Man sieht in vielen Fällen deutlich, wie die strenge Ordnung eines derartigen Kreisbildes die Unordnung und Verwirrung eines psychischen Zustandes kompensiert, und zwar dadurch, dass ein Mittelpunkt, auf den alles hin geordnet ist, oder eine konzentrische Anordnung des ungeordnet Vielfachen, des Entgegengesetzten und Unvereinbaren konstruiert wird. Es handelt sich hierbei offensichtlich um einen Selbstheilungsversuch der Natur, der nicht etwa einer bewussten Überlegung, sondern einem instinktiven Impuls entspringt.
Dabei wird ein fundamentales Schema, ein sogenannter Archetypus, benützt, welcher sozusagen überall vorkommt und seine individuelle Existenz keineswegs nur der Tradition verdankt, ebensowenig, wie die Instinkte einer derartigen Vermittlung bedürfen. Sie sind mit jedem neugeborenen Individuum gegeben und gehören zum unveräußerlichen Bestand jener Eigenschaften, welche eine Spezies charakterisieren. Das, was die Psychologie als Archetypus bezeichnet, ist nichts anderes als ein gewisser häufig vorkommender formaler Aspekt des Instinktes, und ebenso gegeben wie dieser. Dementsprechend finden wir eine grundsätzliche Übereinstimmung, bei aller äußeren Verschiedenheit der Mandalas und unbeschadet ihrer zeitlichen und örtlichen Herkunft.
Individuelle Mandalas sind, wie zu erwarten, von größter Mannigfaltigkeit. In überwiegender Mehrzahl sind sie durch Kreis und Vierheit charakterisiert. Es gibt aber auch gelegentlich solche mit Drei- und Fünfzahl, wofür jeweils besondere Gründe vorliegen.
Während kultische Mandalas stets einen besonderen Stil und eine beschränkte Anzahl typischer Motive als Inhalt aufweisen, bedienen sich individuelle Mandalas einer sozusagen unbeschränkten Fülle von Motiven und symbolischen Anspielungen, aus denen unschwer zu ersehen ist, dass sie entweder die Gesamtheit des Individuums in seinem inneren oder auch äußeren Welterlebnis oder den wesentlichen inneren Bezugspunkt desselben auszudrücken versuchen. Ihr Gegenstand ist das Selbst, im Gegensatz zum Ich, das nur der Bezugspunkt des Bewusstseins ist, während das Selbst die Ganzheit der Psyche überhaupt, nämlich Bewusstes und Unbewusstes, in sich begreift. Nicht selten weist daher das individuelle Mandala eine gewisse Teilung in eine helle und eine dunkle Hälfte mit ihren typischen Symbolen auf.
Die Mandala-Symbolik in verschiedenen Kulturen
Das Mandala ist ein Symbol, das eine immer gleichbleibende Gesetzmäßigkeit zeigt. Es ist auf eine Mitte bezogen und seine Strukturen sind in einen Kreis eingeordnet, wodurch die Ganzheit versinnbildlicht wird.
Der Mittelpunkt im Mandala erscheint als Anfang und Ende aller möglichen Wege. Den äußeren Kreis können wir als Grenzlinie betrachten, die einen heiligen Platz schützend umschließt. Gleichzeitig ist er aber auch ein Symbol für das Unendliche, Allumfassende.
Wenn wir uns über einen längeren Zeitraum mit Mandalas beschäftigen, so können wir deutlich die Wandlung der Persönlichkeit und einen tiefgreifenden seelischen Reifungs- und Integrationsprozess beobachten.
Neben den verschiedenen Formen, die in einem Mandala auftreten, haben auch die Farben eine symbolische Bedeutung. Farben haben eine unmittelbare Wirkung auf unser Inneres, auf unsere Emotionen. Sie sind Strahlungskräfte, Energien, die auf uns positiv oder negativ einwirken können. Sie beeinflussen unsere Stimmung, ob wir es uns bewusst machen oder nicht. So kann zum Beispiel die Farbe Blau unsere innere Ruhe und Entspannung fördern oder die rotgelben Blätter eines sonnendurchfluteten Ahornbaumes im Herbst unsere Stimmung erhellen.
Jede Farbe und Farbnuance hat ihre eigene Qualität, Symbolik und Wirkung. Die Wahl der Farben wird überwiegend durch das Unbewusste bestimmt. Auch die Wahl der Lieblingsfarbe beruht nicht auf dem Zufall, sondern entspringt einem tiefen unbewussten Gespür. Johannes Itten bemerkt: “Das Finden der subjektiven Formen und Farben heißt, sich selbst finden.” Farben sind Träger und Ausdruck unserer Gefühle, die uns bewegen. Auch die Farben im Mandala drücken unsere innersten Gedanken, Gefühle, Intuitionen und körperlichen Empfindungen aus.
Wenn wir die symbolische Bedeutung der Farben in unserem Mandala analysieren, dann können wir die Botschaften, die unser Unbewusstes sendet, verstehen lernen. Einige Farben sind für uns klarer und leichter zu verstehen. Bei anderen Farben dagegen fällt es uns vielleicht schwer, die Symbolik zu erkennen. Eine Farbe kann jedes Mal, wenn wir sie neu anwenden, etwas Anderes bedeuten, je nachdem in welchem Zusammenhang sie auftritt.
Wenn wir die in den Farben ausgedrückten Symbole des Unbewussten erforschen und uns diese Erkenntnisse bewusst machen, können wir unsere Konflikte besser lösen und unsere Neurosen aufdecken. Das Unbewusste ist voll unsichtbarer Energien und Kräfte. Es ist die verborgene Quelle vieler Gedanken, Gefühle und Handlungen. Wenn wir uns mit dieser Quelle verbinden, schenkt sie uns inneres Wachstum, Kraft und Weisheit.
C.G. Jung hat uns gezeigt, dass sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste im Haushalt unserer Gesamtpersönlichkeit eine wesentliche Rolle spielen. Nur wenn beide im richtigen Gleichgewicht zu einander stehen und zwischen beiden Ebenen ein ständiger Energie- und Informationsfluss stattfindet, befinden wir uns im Gleichgewicht.
C. G. Jung war nicht der einzige, der außerhalb Asiens die heilende Wirkung der Mandalas entdeckte und einen Weg fand, um gezielt damit zu arbeiten. Auch bei den Navajo-Indianern sind Heilmandalas bekannt. Der Navajo-Medizinmann wendet sie an, indem er farbigen Sand auf den Körper des Kranken oder auf geweihte Erde streut. Interessanterweise besinnen sich auch die australischen Aborigines wieder auf die uralte Sitte, alljährliche Mandala-Rituale durchzuführen, die der Erhaltung von Mensch, Tier und Pflanze dienen. Dabei werden auf dem Wüstenboden vergängliche Kreisstrukturen beschrieben, die einen Flächeninhalt von bis zu einem Hektar erreichen können. Wie in der Kalachakra-Meditation visualisiert der Meditierende dabei seine vitalen Energien und Atemströme.
Seitdem in unserem Kulturkreis Visualisierungstechniken zur Bekämpfung von Krebs und zur Stärkung des Immunsystems eingesetzt werden, berichten Menschen, die damit Erfahrungen gemacht haben, immer wieder vom spontanen Auftreten von Mandala-Formen.
Der amerikanische Mathematikhistoriker A. Seidenberg hat die Hypothese aufgestellt, dass der Kreis rituellen Ursprungs sei. Er begründet dies auf vielfältige Weise, u.a. durch heute noch nachweisbare rituelle Tänze von Naturvölkern, bei denen der Umlauf der Sonne und des Mondes um die Erde und vor allem die Kreisbewegung der Fixsterne um den Polarstern dargestellt wird.
Seidenbergs Auffassung befindet sich im Einklang mit der modernen Kulturanthropologie, nach der die Wurzel der Kultur im Bedürfnis des Menschen lag, sein Dasein zu stabilisieren, was ihm einerseits durch die Schaffung von Institutionen und andererseits durch die Darstellung seiner Umwelt in Bildern, Tänzen und Symbolen gelang. Es ist überhaupt keine Frage, dass dem Naturmenschen die periodischen Vorgänge in der Natur als die vollendete Form der Stabilität erschienen sein müssen, und dass das Streben nach Übereinstimmung mit den unabhängig von den Wechselfällen des menschlichen Lebens ewig waltenden kosmischen Kräften Grundpfeiler seiner Existenz wurde.
In allem, was ein Indianer tut, findet ihr die Form des Kreises wieder, denn die Kraft der Welt wirkt immer in Kreisen und alles strebt danach, rund zu sein. Einst, als wir ein starkes und glückliches Volk waren, kam unsere ganze Kraft aus dem heiligen Ring unseres Volkes und solange dieser Ring nicht zerbrochen war, ging es den Menschen gut.
Der blühende Baum war der lebendige Mittelpunkt des Ringes und der Kreis der vier Himmelsrichtungen nährte ihn. Der Osten gab Frieden und Licht, der Süden gab Wärme, der Westen gab Regen und der Norden mit seinen eisigen Stürmen verlieh Kraft und Ausdauer.
Alles, was die Kraft der Welt bewirkt, vollzieht sich in einem Kreis. Der Himmel ist rund und ich habe gehört, dass die Erde rund wie ein Ball ist, so wie alle Sterne auch. Der Wind in seiner größten Stärke bildet Wirbel. Vögel bauen ihre Nester rund, denn sie haben die gleiche Religion wie wir. Die Sonne steigt empor und neigt sich in einem Kreis. Das gleiche tut der Mond, und beide sind rund. Auch die Jahreszeiten in ihrem Wechsel bilden einen großen Kreis und kehren immer wieder.
Das Leben des Menschen beschreibt einen Kreis von Kindheit zu Kindheit und so ist es mit allem, was eine Kraft bewegt. Unsere Zelte waren rund wie Vogelnester und immer im Kreis aufgestellt, dem Ring unseres Volkes – ein Nest aus vielen Großen Nestern, in dem wir nach dem Willen des Geistes unsere Kinder hegten und großzogen.
Schwarzer Elch, Häuptling der Oglala-Sioux
(Dieser Artikel ist ein Auszug aus einem Vortrag von Norbert Lösche, 2001)